Kanton

Dienstag 6. Januar 2004, Kanton


Schwierigkeiten bei der Interpretation
Der Sprachenartikel in der Kantonsverfassung (1. Teil)
Die im Verfassungsrat in erster und zweiter Lesung genehmigten Varianten zum Sprachenartikel bringen im Vergleich zur geltenden Verfassung Verbesserungen. Sie weisen jedoch teilweise sprachliche Schwerfälligkeiten und Unklarheiten auf. Letzteres gilt vor allem im Zusammenhang mit der Erwähnung des Territorialitätsprinzips und der damit verbundenen Erklärungen.
Von MORITZ BOSCHUNG
In der vergangenen November- und Dezembersession hat der Verfassungsrat des Kantons Freiburg im Rahmen der zweiten Lesung den Sprachenartikel neu gefasst. Er hat dabei eine Divergenz zur Fassung der ersten Lesung geschaffen. Die für Januar 2004 anberaumte dritte Lesung soll darüber entscheiden, welche Variante in den endgültigen Verfassungsentwurf einfliessen soll, über den im Mai die Volksabstimmung stattfinden wird. Beide Varianten weisen Unklarheiten und Schwachpunkte auf. Sie mögen nicht nur aus deutschfreiburgischer Sicht, sondern aus grundsätzlichen Überlegungen nicht voll zu befriedigen.
Mehrheit ist auch Minderheit
Bekanntlich misst sich die Qualität einer Gesellschaft unter anderem auch an der Art, wie sie mit den Minderheiten umgeht. Ist dieser Umgang geprägt von Angstgefühlen und Abwehr, von Grosszügigkeit oder von gesundem Selbstbewusstsein? Für den Kanton Freiburg mit seiner Zwei-Drittel-Mehrheit französischer Zunge, die gleichzeitig Minderheit auf nationaler Ebene ist, stellt sich diese Fragestellung nicht nur beispielsweise im sozialen Bereich, sondern als besondere Herausforderung auch im Sprachbereich.
Fortschritte, aber . . .
Die nachfolgenden, keineswegs vollständigen Überlegungen wollen aufzeigen, dass mit den bisherigen Vorschlägen im Vergleich zum Verfassungsartikel von 1990 durchaus Fortschritte erzielt wurden. Dennoch weisen die Ergebnisse der ersten und zweiten Lesung sowohl inhaltlich wie sprachlich mehrere Schwachpunkte auf (siehe die Versionen im Kasten). Da die dritte Lesung im Prinzip nur noch das Ergebnis der ersten oder zweiten Lesung bestätigen kann - es sei denn mehr als die Hälfte der Verfassungsräte könnten sich zu einer Neubeurteilung der Sprachenfrage bewegen lassen -, verbleiben etliche Unklarheiten.
Der Verfassungsrat hat es bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht verstanden, eine wirklich ausgewogene, von Offenheit geprägte, an die kantonalen Verhältnisse angepasste Lösung zu erarbeiten. Die Zeichen stehen im Kanton nicht so, dass man in der Sprachenfrage von einem Aufbruch reden könnte.
Welches Gewicht soll dem Sprachenartikel gegeben werden? Zwei Artikel würden die Besonderheit des Kantons sicher unterstreichen. Sie widersprechen anderseits zumindest innerhalb des betreffenden Kapitels, in welchem sie sich befinden, der Logik des Aufbaus der Verfassung, wonach in der Regel jeweils ein Thema mit einem Artikel behandelt wird.
Ein oder zwei Artikel?
Wichtiger scheint mir der Wille des Verfassungsgebers, über den deklamatorischen Wert hinaus die Sache möglichst präzis festzuhalten und spätere Interpretationsschwierigkeiten zu vermeiden. Festzuhalten und zu würdigen ist bei beiden Varianten, die der Rat bisher beschlossen hat, dass
l die Gleichberechtigung der Sprachen gewährleistet ist;
l am Territorialitätsprinzip ausdrücklich festgehalten wird, wobei aber mit der Übernahme des Textes aus der Bundesverfassung ein Rahmen gegeben wird, in welche Richtung das Territorialitätsprinzip auszulegen sei, nämlich nicht in der strikten Form von «eine Gemeinde - eine Sprache»;
l die Existenz von zweisprachigen Gemeinden nicht in Frage gestellt ist;
l die Förderung der Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften anerkannt ist und die Zweisprachigkeit gefördert wird. - Dennoch bleiben einige grundsätzliche Fragen nicht oder nur unklar beantwortet.
Der «Gebrauch» der Sprachen
Beide Varianten der ersten und zweiten Lesung halten fest, dass der «Gebrauch» der Amtssprachen «in Achtung des Territorialitätsprinzips geregelt wird». Das Wort «Gebrauch» ist in diesem Zusammenhang unzutreffend. Vielmehr sollte hier die Rede von der «Anwendung» der Amtssprachen im Rahmen des Territorialitätsprinzips sein.
Der «Gebrauch» ist ein Ausdruck, der in den Bereich der Sprachenfreiheit fällt. Denn es muss jedem Bürger und jeder Bürgerin auf dem ganzen Territorium des Staates Freiburg frei bleiben, im privaten Bereich jene Sprache zu gebrauchen, die er will.
Beachtung der herkömmlichen sprachlichen Zusammensetzung
Beide vom Verfassungsrat in der ersten bzw. zweiten Lesung festgehaltenen Varianten erteilen «dem Staat und den Gemeinden» im Rahmen des Territorialitätsprinzips den Auftrag, «auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete» zu achten. Das mag zwar auf Ebene des Gesamtstaates noch Sinn machen und stellt für reinsprachige Gebiete kein Problem dar. Anders in den gemischtsprachigen Gemeinden im Sprachgrenzgebiet, wo sich Deutsch und Französisch seit Jahrhunderten vermischen, wie z. B. in Courtepin oder in der Stadt Freiburg.
Eine geographische territoriale Aufteilung (im Französischen ist von «répartition» die Rede, im Deutschen von «Zusammensetzung», was dem Satz eine andere Bedeutung gibt!) ist schlicht nicht möglich. Was man allenfalls daraus ablesen kann, ist die Aufforderung, diese Gemeinschaft und damit die Zweisprachigkeit zu wahren mit allen daraus folgenden Konsequenzen. Das ist nur möglich, wenn man das Territorialitätsprinzip in dem Sinn auffasst, dass es in historisch gewachsenen zweisprachigen Gebieten eben gerade diese Zweisprachigkeit schützen soll.
Beide vom Rat in der ersten bzw. zweiten Lesung festgehaltenen Varianten halten «Staat und Gemeinden» dazu an, im Rahmen des Territorialitätsprinzips auch «Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten» zu nehmen. «Angestammt» heisst historisch gewachsen und unterstreicht damit den Unterschied zu den allenfalls erst vor kurzem eingewanderten (fremd-) sprachlichen Minderheiten.
Aber wie weit zurückgeht «angestammt»? Eine, zwei oder drei Generationen, oder so weit die schriftlichen Zeugnisse reichen? Oder sind auch die vorgeschichtlichen Befunde wie Namenkunde und Archäologie einzubeziehen? Wie soll die Rücksichtnahme erfolgen, wenn die Sprachvermischung wie in Marly, Freiburg oder Courtepin seit Jahrhunderten querdurch in geographisch nicht definierbarer Art durch das Gebiet der Gemeinde geht? Was für einen Sinn kann dann eine solche Bestimmung machen? Und worin liegt der Unterschied zwischen «herkömmlich» und «angestammt» - zwei Ausdrücke im gleichen Artikel, die weitgehend das Gleiche bedeuten?
Die bedeutende angestammte sprachliche Minderheit . . .
Zum Begriff «bedeutend» gehen die Meinungen auseinander. In Finnland gelten z. B. Gemeinden dann als zweisprachig, wenn die «bedeutende» Minderheit zehn Prozent ausmacht. In der sog. Kommission Schwaller, die in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre versuchte, dies zu definieren, ging man von einer stabilen bestätigten Minderheit von 30 Prozent aus. Die Strassensignalisationsverordnung des Bundes schreibt z. B. in Artikel 49 zweisprachige Ortstafeln vor, wenn die Minderheit 30 Prozent beträgt.
Sicher ist, dass die mit «bedeutend» angesprochene Minderheit nicht nur die zahlenmässige Komponente berücksichtigen darf, sondern auch andere Kriterien wie z. B. Grösse der Gemeinde, «kulturelle» oder «politische» Funktion. Mit Recht sollte «bedeutend» also nicht mit einer Prozentzahl erwähnt werden. Sicher ist auch, dass sich in der Interpretation von «bedeutend» die grundsätzliche Haltung der Mehrheit gegenüber der Minderheit niederschlägt, wie sie eingangs erwähnt worden ist.
. . . und die angestammte sprachliche Minderheit
Im gemischtsprachigen Sprachgrenzbereich haben praktisch alle Gemeinden eine mehr oder weniger grosse sprachliche Minderheit. Was auf den ersten Blick klar erscheint, ist es auf den zweiten nicht mehr, weil die beiden Varianten die Minderheit in Verbindung setzen mit «angestammte sprachliche Minderheit».
Nun gibt es aber im Sprachgrenzbereich einige Gemeinden, die im Verlauf des letzten Jahrhunderts - um nur diesen auch statisch erfassbaren Zeitraum zu erwähnen - die sprachliche Minderheit gewechselt haben. Hier zwei Beispiele: In Pierrafortscha war bis zur Volkszählung von 1960 die deutschsprachige Bevölkerung in der Mehrheit, seit 1970 aber in der Minderheit. In Courgevaux waren die Deutschsprachigen bei Volkszählungen in der Zeit von 1900 bis 1990 dreimal in der Mehrheit und siebenmal in der Minderheit. Somit sind - um bei diesen beiden Gemeinden zu bleiben, es gibt aber noch einige andere - sowohl Deutsch wie Französisch die angestammte Minderheit.
Das ist der beste Beweis für die Zweisprachigkeit von einigen Gemeinden im Sprachgrenzgebiet. Es wäre richtiger von «angestammten französisch- oder deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen» statt von Minderheiten zu reden.

Der Historiker Moritz Boschung ist CVP-Verfassungsrat und wohnt in Düdingen.
Fassung 1. Lesung
Art. 6 Sprachen
a) Zweisprachigkeit
1 Die Zweisprachigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil der Identität des Kantons und seiner Hauptstadt.
2 Staat und Gemeinden fördern durch gezielte Massnahmen die Verständigung, das gute Einvernehmen und den Austausch zwischen den kantonalen Sprachgemeinschaften.
3 Der Staat fördert die Beziehungen zwischen den nationalen Sprachgemeinschaften, insbesondere zwischen der französisch- und deutschsprachigen Schweiz.

Art. 7 b) Amtssprachen
1 Französisch und Deutsch sind die Amtssprachen.
2 Ihr Gebrauch wird in Achtung des Territorialitätsprinzips geregelt; Staat und Gemeinden achten auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten.
3 Französisch ist die Amtssprache der französischsprachigen Gemeinden; Deutsch ist die Amtssprache der deutschsprachigen Gemeinden. In den Gemeinden mit einer bedeutenden sprachlichen Minderheit können Französisch und Deutsch Amtssprachen sein; die Zustimmung des Staates ist notwendig.

Fassung 2. Lesung
Art. 6 Sprachen
1 Französisch und Deutsch sind die Amtssprachen des Kantons.
2 Ihr Gebrauch wird in Achtung des Territorialitätsprinzips geregelt; Staat und Gemeinden achten auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten.
3 Die Amtssprache der Gemeinden ist Französisch oder Deutsch. In Gemeinden mit einer bedeutenden angestammten sprachlichen Minderheit können Französisch und Deutsch Amtssprachen sein.
4 Der Staat setzt sich ein für die Verständigung, das gute Einvernehmen und den Austausch zwischen den kantonalen Sprachgemeinschaften. Er fördert die Zweisprachigkeit.
5 Er fördert die Beziehungen zwischen den nationalen Sprachgemeinschaften der Schweiz.

Bundesverfassung
Art. 70 Sprachen
1 Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes.
2 Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten.
3 Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften.
4 Der Bund unterstützt die mehrsprachigen Kantone bei der Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben.
5 Der Bund unterstützt Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache.
Was heisst Territorialitätsprinzip?
Schon von Beginn der Diskussion im Verfassungsrat an gab das 1990 in die Verfassung aufgenommene Territorialitätsprinzip Anlass zu unterschiedlicher Interpretation. Es war deshalb ein Anliegen einer grossen Mehrheit der deutschsprachigen Verfassungsräte, dieses Prinzip entweder aus dem Verfassungsentwurf zu entfernen oder es mindestens so zu setzen, dass damit die Interpretation eindeutiger würde.
Im Wortlaut bedeutet das Territorialitätsprinzip, dass in einem bestimmten Territorium nur die in diesem Territorium heimische amtliche Sprache gesprochen werden darf. Das Territorialitätsprinzip soll dazu verhelfen, diese herkömmliche in einem Territorium gesprochene Sprache zu bewahren und einen willkürlichen Wechsel der Sprachen oder die Bildung von Sprachinseln in einem eindeutig einsprachigen Territorium zu verhindern. So gesehen kommt dem Territorialitätsprinzip eine Schutzfunktion zu.
Gewisse französischsprachige Kreise aus dem Umfeld der «Communauté romande du pays de Fribourg» (CRPF) interpretieren nun das Territorialitätsprinzip für das Territorium einer Gemeinde im Sinne von «eine Gemeinde - eine Sprache». Danach gäbe es im Kanton Freiburg nur französisch- und deutschsprachige Gemeinden, aber keine gemischtsprachigen (wobei allenfalls die Stadt Freiburg und Murten gemäss CRPF doch als zweisprachig betrachtet werden könnten).
Unterschiedliche Interpretation
Die Deutschsprachigen interpretieren das Territorialitätsprinzip jedoch in dem Sinn, dass es gerade auch gemischtsprachige Gebiete als solche schützt, wenn die Gemischtsprachigkeit eine historisch gewachsene Tatsache darstellt. Dies ist offensichtlich für mehrere Gemeinden im Sprachgrenzraum zwischen dem Grossraum Freiburg und Murten der Fall.
Die Mehrheit des Verfassungsrates hat es (leider) bevorzugt, trotz der Interpretationsschwierigkeit beim Territorialitätsprinzip zu verbleiben, wobei hier nicht auf alle Hintergründe eingegangen werden kann.
Eine Interpretationshilfe bieten die Passagen, die mehr oder weniger wörtlich vom Sprachenartikel 70 der Bundesverfassung (BV) übernommen worden sind. Die BV verpflichtet die Kantone, «auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete zu achten» und «Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten zu nehmen.»
Was auf Bundesebene plausibel erscheint, macht tel quel auf Kantons- und Gemeindestufe übertragen wenig Sinn. Vielmehr muss eine auf die Kantons- und Gemeindestufe umgestaltete Formulierung gefunden werden. Das hat leider bei beiden Freiburger Varianten der ersten und zweiten Lesung nicht stattgefunden. Somit bleiben einige Unklarheiten und Ungereimtheiten. 
mb



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