Pierre Glasson (1907–1991), freisinnig
Nach dem Besuch der Primarschule in Bulle und des Kollegiums St. Michael studiert Pierre Glasson Rechtswissenschaften in Freiburg, Berlin und Göttingen, um 1937 das Doktorat abzulegen. Nach Erhalt des Anwaltspatents eröffnet er eine Kanzlei in seiner Heimatstadt (1938–1946) und gewinnt 1945 eine gewisse Popularität, als er die Anführer des «Tumults von Bulle» vor dem Bundesstrafgericht verteidigt. Dabei geht es um den Streit zwischen einheimischen Bürgern und Inspektoren des Bundesamts für Kriegswirtschaft, die über den Schwarzmarkt für Fleisch ermittelten.
Sein politisches Ansehen beruht auf der Anerkennung seiner Erfahrungen als Grossrat (1941–1946) und als Gemeinderat von Bulle (1942–1946) sowie als Präsident des Cercle des arts et métiers von Bulle und der Greyerzer Freisinnig- Demokratischen Partei. Zudem ist er Vizepräsident (1943–1946) und Präsident (1946–1952) der Freiburger FDP. Aufgrund seines Ansehens bei den Greyerzer Freisinnigen setzen ihn diese für die Staatsratswahlen 1941 auf eine unabhängig-freisinnige Liste, um den Sitz des unbeliebten Joseph Piller anzugreifen. Dieser erste Versuch scheitert zwar, doch 1946 steht er demselben Gegner im zweiten Wahlgang gegenüber. Nach einer ungewöhnlich heftigen Kampagne müssen die Konservativen eine historische Niederlage einstecken und verlieren ihren sechsten Sitz. Glasson, dem die Zeitung Le Fribourgeois den Übernamen «Proteus von Bulle» gibt, wird beschuldigt, ebenso von den Nazis (1941) wie von den Kommunisten (1946) unterstützt zu werden. In der FDP herrschen zur Zeit dieser beiden Wahlen starke Spannungen, die 1946 sogar zu einer vorübergehenden Spaltung führen, bis die Partei rund um Glasson ihre Einheit zurückgewinnt.
Im Staatsrat ist Pierre Glasson Vorsteher der Direktion der Justiz, der Gemeinden und der Pfarreien (1946–1959). Unter seiner Leitung werden die Verfassungsänderungen verabschiedet, die das fakultative Finanzreferendum und einen vom Saanebezirk unterschiedenen Wahlkreis für die Stadt Freiburg einführen. Mit seiner soliden juristischen Ausbildung und seinen Talenten als Menschenführer leistet er einen erheblichen Beitrag zur Modernisierung der kantonalen Gesetzgebung und zur Reorganisation der Justiz. Zu seinen Werken gehören die Gesetze über die Organisation der Justiz und des Vormundschaftswesens (1949), das Gesetz über das Jugendstrafverfahren und die Revision des Gesetzes über die unentgeltliche Rechtspflege (1950) sowie das neue Zivilgesetzbuch (1953).
Unter Pierre Glasson's Zuständigkeit fällt zudem die Verwaltung der kantonalen Anstalten Bellechasse und Drognens. Während er die Erstere durch Renovationen und Umbauten fördert, lässt er hinsichtlich Drognens ein Dekret verabschieden, das den Verkauf des Instituts Saint-Nicolas ermöglicht (1959). Zweimal wiedergewählt, verbringt Pierre Glasson 13 Jahre im Staatsrat, den er 1952 und 1959 präsidiert. Am Ende seines zweiten Präsidialjahrs reicht er seinen Rücktritt ein, da er zum einen Angebote aus der Privatwirtschaft erhalten hat, zum andern jedoch – laut seiner späteren Aussage – weil er der seinem Minderheitsstatus bedingten Zwänge und Anstrengungen müde geworden sei. Seine politische Laufbahn setzt sich im Nationalrat fort, in dem er seit 1951 sitzt. 1947 ein erstes Mal gewählt, hatte er auf sein Mandat verzichten müssen, da die Freiburger Verfassung die Zahl der gleichzeitig in den Eidgenössischen Räten sitzenden Staatsräte auf drei beschränkt. In den 20 Jahren, die er in Bern verbringt (1951–1971), erweist er sich als einflussreicher Parlamentarier. Von 1964 bis 1968 präsidiert er die Schweizer FDP.
Aufgrund seines Einflusses im Bundesparlament und seiner Kenntnisse des politischen und wirtschaftlichen Räderwerks wird er von grossen Dachorganisationen umworben. So präsidiert er den Verband Schweizerischer Zigarettenfabrikanten (1960–1972), den Verband der Schweizerischen Tabakindustrie (1961–1972) und die Convention chocolatière suisse (1963–1978). Zudem ist Pierre Glasson Präsident des ersten Verwaltungsrats der PTT (1970–1977), dies nach der administrativen Reorganisation des Unternehmens.
In der Armee befehligt Pierre Glasson das Infanterieregiment 7 und anschliessend die Grenzbrigade 2 im Rang eines Oberstbrigadiers. Während 20 Jahren präsidiert er das Musikkorps der Landwehr (1963–1983), dessen Ruhm er festigt und das er erfolgreich auf Reisen nach Iran, Japan und China oder in die Vereinigten Staaten schickt. Als Mann von Kultur und Mäzen stirbt er am 4. Mai 1991 im Alter von 84 Jahren in Freiburg.
Aus dem Französischen übersetzt, aus: «LE CONSEIL D'ETAT FRIBOURGEOIS – 1848 – 2011 – Son histoire, son organisation, ses membres» ¦ ISBN: 978-288355-153-4 ¦ Editions La Sarine