Trotz der abnehmenden Zahl der Sängerinnen und Sänger, die mitunter vor geschlossenen Türen stehen und entmutigt werden, bleibt der Brauch lebendig, was zum Teil den Lehrerinnen und Lehrern zu verdanken ist, die diese Tradition bekanntmachen und mit ihren Klassen Lieder einüben. Er wird auch in vielen Familien weitergegeben. Manche nehmen ihr Instrument mit und spielen eine Melodie. Im Greyerzerland kommt es nicht selten vor, dass Kinder den Dzaquillon (ein Kleid mit einer farbigen Schürze) und den Bredzon (eine schwarze Wolljacke) tragen und in Patois singen.
Die jungen Sängerinnen und Sänger durchstreifen ihr Dorf und bisweilen auch die umliegenden Gemeinden zu Fuss oder mit dem Velo und freuen sich über diesen schulfreien Tag. In der Stadt suchen sie vorzugsweise Läden und Restaurants auf, wo sie sicher sind, dass man ihnen zuhört.
Ein alter Ursprung
Ursprünglich war dieser alte Brauch nicht ausschliesslich im Kanton Freiburg verbreitet. Man findet ihn an verschiedenen Orten in der Schweiz und sogar in Europa, mit Varianten, die für jede Region und Kultur typisch sind. Bis ins 19. Jahrhundert gibt es Belege für seine Präsenz in den Westschweizer Kantonen. Ein Artikel aus dem Jahr 1897 im Schweizerischen Archiv für Volkskunde beschreibt das Maifest als einen der letzten der heidnischen Bräuche, die früher bei uns existierten (Robert William, «La fête de Mai», S. 229). Allerdings konnte nur Freiburg diesen Brauch bewahren.
Doch selbst dort scheint der Brauch im 19. Jahrhundert auszusterben. In seinen Nouveaux souvenirs de Fribourg (1865) stellt Ferdinand Perrier mit Bedauern fest: «Mais l’usage s’en va, hélas! tout disparaît, oh ! comme vous fuyez devant le progrès, douces réminiscences d’autrefois, joyeux souvenirs, mœurs candides et coutumes si chères!» (Aber der Brauch geht verloren, ach, alles verschwindet. Oh, wie flieht ihr vor dem Fortschritt, süsse Anklänge an früher, fröhliche Erinnerungen, aufrichtige Sitten und liebgewonnene Bräuche!). Er erinnert sich noch an die Maïenzé und Chervadzo aus Estavayer-le-Lac. Joseph Volmar beschreibt sie 1908 in seinem Buch Us et coutumes d'Estavayer ausführlich: «de vraies troupes de sauvages et de maïentses arrivaient encore de la campagne à la ville, le matin du premier mai, pour chanter de porte en porte le réveil du printemps.» (noch immer kamen am Morgen des ersten Mais wahre Scharen von Wilden und Maïentses vom Land in die Stadt, um von Tür zu Tür das Erwachen des Frühlings zu besingen). Er beklagt, dass die wenigen Sängerinnen und Sänger, die er getroffen hat, nicht mehr das alte Maienlied singen, sondern Lieder, die sie in der Schule gelernt haben.
1878 veröffentlichten die Nouvelles Étrennes Fribourgeoises das Lied des Wilden in Patois und gaben an, dass es Anfang Mai von den Kindern gesungen wird. Jedoch scheint die Tradition der Maisängerinnen und Maisänger in jenen Jahren bereits im Abnehmen begriffen zu sein. Die wenigen verfügbaren Erwähnungen sprechen von einer vergangenen Tradition. 1903 veröffentlichte die Zeitung La Gruyère illustrée das Lied «Voici venir le mois de mai» und fügte eine Anmerkung hinzu, in der es heisst: «Dieses Lied, von dem es mehrere Varianten gibt, wurde früher von den Maïintzes gesungen, die am 1. Mai von Haus zu Haus gingen». Dennoch blieb die Tradition erhalten und wahrscheinlich hat man in manchen Dörfern nie aufgehört, am 1. Mai zu singen.
Früher erhielten die Kinder vor allem etwas Essbares: ein Bricelet, ein Stück Brot, Nüsse oder Schnetz (getrocknete Äpfel). Ab Beginn der 1950er Jahre erhielten sie ein wenig Geld, meist zwischen 5 und 10 Rappen. Heute schwankt die Belohnung zwischen 50 Rappen und einem Franken, bei erfolgreicher Darbietung sogar bis zu zwei Franken. Das gesammelte Geld wird traditionell für ein Geschenk zum Muttertag verwendet, während der Rest in der Spardose landet oder für Süssigkeiten oder Spielzeug ausgegeben wird.
Das Repertoire
Auch die Lieder haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Während des gesamten 20. Jahrhunderts wurde das Repertoire vor allem in der Schule eingeübt, weshalb Lehrerinnen und Lehrer eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Tradition spielten. Dieses Repertoire stammte hauptsächlich aus den Schulgesangsbüchern von Abbé Bovet, Le Kikeriki und L'écolier chanteur. Später kamen Lieder von Kindergruppen wie «Les Petits Chanteurs d’Ursy» oder «Les Poppys» hinzu, die das Repertoire ebenso bereicherten wie Hits aus dem französischen Chanson. Heutzutage werden traditionelle Lieder in der Schule nicht mehr immer unterrichtet, es sei denn, die Lehrerin oder der Lehrer möchte diese Tradition weiterführen. Kinder nehmen auch moderne Songs in ihr aktuelles Repertoire auf.
Der 1. Mai der Jugendvereine
Auch die Jugendvereine führen in vielen Dörfern die Tradition weiter. Früher gingen nur die jungen Männer am ersten Mai singen. Als Gegenleistung für ihren Gesang sammelten sie ein paar Geldmünzen und Eier, die sie in einem Korb oder in einer Kapuze stapelten. Dann luden sie die Mädchen des Dorfes in die Beiz ein, um die «Cassée», zu teilen, ein grosses Omelett, das aus den gesammelten Eiern zubereitet wurde.
Heute sind die Jugendvereine geschlechtergemischt. Die Jugendlichen ziehen an zwei oder drei Abenden durch ihr Dorf. Mitunter in Bredzon und Dzaquillon gekleidet stimmen sie die Lieder in jedem Haus an, die sie in den wenigen Proben zuvor gelernt haben, und erhalten dafür Geld, das in die Kasse des Jugendvereins fliesst. Dieser Brauch, der in Dörfern mit einem aktiven Verein immer noch praktiziert wird, stammt aus den 1970er Jahren.
Der 1. Mai Singwettbewerb
Im Jahr 2001 wurde ein Songwettbewerb für den 1. Mai ins Leben gerufen, um eine in der Schweiz einzigartige Tradition wiederzubeleben, die nach wie vor beliebt ist. Er wird von der Freiburger Chorvereinigung (FCV) organisiert und steht allen Kindern aus dem Kanton Freiburg offen, ohne Alters- oder Niveaubeschränkung. Die Teilnehmenden werden in der Regel nach Altersgruppen eingeteilt, um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Die Vorausscheidungen finden an verschiedenen Orten im Kanton statt, sowohl im deutschsprachigen als auch im französischsprachigen Teil. Die Finalistinnen und Finalisten werden dann zur Teilnahme am grossen Finale eingeladen. Die Gewinnerinnen und Gewinner des Wettbewerbs erhalten Preise wie Einkaufsgutscheine und professionell geleitete Stimm- und Chorausbildung. Es ist eine gute Gelegenheit für Sängerinnen und Sänger, ihr Talent zu zeigen und die Rückkehr des Frühlings zu feiern.
Text : Florence Bays, Anne Philipona
Übersetzung : Daniela Meichtry
Für weitere Informationen
- Bise, Gabriel : « Us et coutumes de la Broye fribourgeoises », In Annales fribourgeoises, S. 89.
- Boschung, Moritz: Die Tradition des Maisingen, in Moritz Boschung, Eine Sensler Heimatkunde, Hrsg. von Pascal Aebischer, Beiträge zur Heimatkunde vol. 77, Deutschfreiburger Heimatkundeverein, Fribourg 2013.
- Perrier, Ferdinand: Nouveaux souvenirs de Fribourg. Freiburg, 1868.
- Philipona, Anne et Papaux, Jean-Pierre: Il est de retour le joyeux mois de mai, Les Editions de La Sarine, 2014.
- Robert, William: «La fête de Mai». In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 1897, S. 229-231.
- Rouiller, Jean-François : Portrait des Fribourgeois au gré du temps et des traditions, Fribourg, Editions du Cassetin, 1981, S. 60.
- Volmar, Joseph: Us et coutumes d’Estavayer, Estavayer-le-lac, H. Butty, 1933, S. 84