Die Sammlung umfasst insgesamt rund 3800 Schädel und 1500 Skelette, die seit Januar 2011 zusammengekommen sind. Etwa 300 davon liegen derzeit im Büro der jungen Paläontologin Olivia Plateau. Die Französin befasst sich für ihr Doktorat an der Universität Freiburg mit der Individualentwicklung von Vögeln. Es sei ein grosses Glück, dass sie quasi vor der Haustür auf diese Sammlung gestossen sei, sagt sie. Weitere Schädel für ihre Forschungen hat sie in Paris, Wien, Bern und Basel gefunden. Die Freiburger Sammlung aber enthalte besonders viele Schädel von Jungvögeln, die für sie besonders interessant seien.
Olivia Plateau untersucht die Vogelknochen, vermisst und vergleicht sie. Einige Exemplare hat sie bereits im Computertomografen gescannt, um das Innenleben in 3-D zu untersuchen. Sie greift zu einem Schädel und zeigt auf eine deutlich sichtbare Knochennaht, eine sogenannte Sutur. Dort sind im Laufe der Entwicklung die Schädelknochen zusammengewachsen, genauso, wie man das auch vom Menschen kennt. Dass die Naht so gut zu sehen sei, weise darauf hin, dass es sich um einen sehr jungen Vogel gehandelt habe, sagt Olivia Plateau. Bei noch jüngeren Exemplaren sind gar noch die Lücken zwischen den Knochen sichtbar. Bei älteren Vögeln hingegen sind die meisten Knochen, vor allem jene im Hirnschädel, komplett zusammengewachsen, und die Knochennähte sind praktisch unsichtbar, so dass eine einzige Knochenstruktur übrig bleibt.
«Mit dieser Entwicklung des Schädels unterscheiden sich die Vögel von fast allen anderen Wirbeltieren», sagt der Biologe und Paläontologe Christian Foth, der mit Olivia Plateau zusammenarbeitet und ihr Doktorvater ist. Er vermutet, dass die starke Fusion der Knochen mit der Beweglichkeit des Schnabels zusammenhängen könnte: «Vögel und besonders Jungvögel, die von ihren Eltern gefüttert werden, können ihren Schnabel enorm weit aufklappen. Die Fusion der Knochen bei Altvögeln könnte der Stabilisierung des Schädels dienen und ungewollte Mikrobewegungen beim Öffnen und Schliessen des Schnabels verhindern.» Dies sei aber vorerst nur eine These und müsste näher untersucht werden.
(...) Vögel sind nicht einfach die Nachfahren, sondern streng genommen «die letzten überlebenden Dinosaurier» (...)
Für Christian Foth sind die Vogelschädel aber vor allem aus einem anderen Grund interessant: Zu seinen Fachgebieten zählen die Anatomie und die Individual- und Stammesentwicklung von Raubdinosauriern. Tatsächlich tragen die Vogelschädel des NHMF nicht nur dazu bei, mehr über die Evolution von Vögeln zu erfahren, sondern auch über jene von Raubdinosauriern. Denn Vögel sind nicht einfach die Nachfahren, sondern streng genommen «die letzten überlebenden Dinosaurier», wie es Christian Foth formuliert. «Die Vogelschädel erlauben es, Vergleiche anzustellen mit dem, was man aufgrund von Fossilienfunden über die Dinosaurier weiss.» Dabei sei bei der Entwicklung der Schädelknochen Interessantes zu beobachten: Die typischen Verwachsungen gebe es zwar auch bei grossen Raubdinosauriern, doch seien diese viel weniger ausgeprägt als bei den Vögeln . «Der Zustand ist also bei Jungvögeln sowie bei jungen und bei alten Raubdinosauriern ähnlich, während die Altvögel stark davon abweichen.» Dies sei ein Hinweis auf eine so genannte Peramorphose: So bezeichnet man eine evolutionäre Veränderung in der Individualentwicklung, bei der Merkmale späterer Entwicklungsstadien einer Vorfahrenart bei der Nachfahrenart schon in der Jugendzeit ausgeprägt werden. Die Schädelknochen junger Vögel weisen also ähnliche Merkmale auf wie jene erwachsener Dinosaurier. Eine stärkere Fusion der Schädelknochen habe sich erst bei Urvögeln aus der späten Kreidezeit entwickelt, sagt Christian Foth. «Und das waren schon sehr nahe Verwandte der modernen Vögel.»
Weiterführende Literatur:
Plateau, O., Foth, C. (2020) Birds have peramorphic skulls, too: anatomical network analyses reveal oppositional heterochronies in avian skull evolution. Communications Biology 3(1): 1-12